Bringen wir es auf den Punkt: Dass es überhaupt etwas „Greifbares" im Universum gibt, ist einem „Verstoß“ gegen die Regeln des Teilchenzerfalls geschuldet. Wäre in der Frühphase des Universums alles mit „rechten Dingen“ zugegangen, der Kosmos wäre strukturlos und ausschließlich von Strahlung erfüllt. Folgt man den Theorien der Kosmologen und Teilchenphysiker, so gab es in der Planck-Ära des Universums, 10-44 Sekunden nach dem Urknall, nur eine alles bestimmende Ur-Kraft, die alle heute bekannten Wechselwirkungen in sich vereinte. In der Zeit 10-34 bis 10-32 Sekunden nach dem Big Bang kam es dann zu einem Phasenübergang, bei dem sich diese „Ur-Kraft“ – manche nennen sie auch X-Kraft – in eine die starke, die schwache und die elektromagnetische Kraft vereinheitlichende Kraft und in die Gravitationskraft aufspaltete. Kosmologen bezeichnen diese Epoche als GUT-Ära (GUT = Grand Unified Theorie). Diese Periode wurde bestimmt durch sogenannte X- und Y-Bosonen und deren Antiteilchen. Mit einer Ruhemasse von ca. 1016 Giga-eV, was rein rechnerisch rund 110 Millionen Kilogramm entspricht, waren diese Teilchen extrem massereich. Aufgrund der steten Expansion des Universums sank die Temperatur jedoch immer weiter ab, sodass sich kurz darauf eine weitere Symmetriebrechung ereignete, bei der sich die in der GUT-Ära vorherrschende Kraft in die starke Kernkraft und in die elektromagnetische und die schwache Kraft zusammenfassende elektroschwache Wechselwirkung aufspaltete. Dabei zerfielen auch die X- und Y-Bosonen in Quarks und Leptonen. Beide Teilchen sind Elementarteilchen und gehören zu den Grundbausteinen der Materie. (Man kennt insgesamt 12 Leptonen: das Elektron, das Myon, das Tau, zu jedem ein Neutrino und zu allen wiederum ein Antiteilchen).
Wie die Grafik zeigt, wurde beim Zerfall der Bosonen sowohl die Baryonenzahl als auch die Leptonenzahl verletzt. Da der Zerfall asymmetrisch verlief, entstanden nicht gleich viele Teilchen und Antiteilchen, vielmehr kamen auf rund zehn Milliarden Antiteilchen zehn Milliarden und ein zusätzliches Teilchen „normaler“ Materie. Als dann die Temperatur im Kosmos so weit gesunken war, dass Teilchen und Antiteilchen nicht mehr nebeneinander bestehen konnten, vernichteten sich Teilchen und Antiteilchen gegenseitig zu Photonen, die wir noch heute als „Kosmische Hintergrundstrahlung“ beobachten können. Dabei blieb von jeweils 20 Milliarden Teilchen und Antiteilchen nur das eine überzählige normale Teilchen übrig, das keinen Partner für eine Zerstrahlungsreaktion gefunden hatte. Aus diesem winzigen Überschuss der Materie über die Antimaterie entstand alles, was wir heute im Universum vorfinden.
Die Gründe für diese Asymmetrie sind nach wie vor unbekannt. Man vermutet, dass eine Verletzung der CP-Symmetrie bei der schwachen Wechselwirkung dafür verantwortlich sein könnte. Was die vier fundamentalen Wechselwirkungen betrifft, so hat man es mit drei Symmetrien zu tun: der Ladungssymmetrie C (charge), der Spiegelsymmetrie P (parity) und der Zeitsymmetrie T (time). Dabei bedeutet C Symmetrie gegenüber einem Wechsel der Polarität des Teilchens. Ein negativ geladenes Elektron wird durch einen Wechsel der Polarität zu einem Positron, dem Antiteilchen des Elektrons.
Spiegelsymmetrie P besteht, wenn Original und gespiegeltes Objekt ununterscheidbar sind. Bei einer Spiegelung wird nicht die Ladung, sondern „Links“ und „Rechts“ vertauscht. Beispielsweise sieht das Spiegelbild eines perfekten Ahornblattes genauso aus wie das Original. Ist schließlich ein Vorgang zeitlich umkehrbar, d. h. der Anfangszustand stellt sich wieder ein, wenn man den Prozess rückwärts laufen lässt, so spricht man von Zeitsymmetrie T.
Eine Wechselwirkung gilt als invariant gegen C, P oder T, wenn sie die Teilchen unabhängig von ihrer Ladung, einer Spiegelung und einer Prozessumkehr gleich behandelt. Man spricht dann von CPT-Symmetrie.
Bei der starken Kraft, der elektromagnetischen Kraft und der Gravitation sind die Symmetrien C, P und T erhalten. Bei der schwachen Wechselwirkung, die für den Teilchenzerfall verantwortlich ist, sind jedoch C und P einzeln maximal verletzt. Am Beispiel des Neutrinos, das in unserer Welt nur linkshändig vorkommt, lässt sich das gut zeigen. Dabei bedeutet „linkshändig“, dass sich das Neutrino, in Flugrichtung betrachtet, links herum dreht, sein Spin also antiparallel zur Impulsrichtung ausgerichtet ist, während es bei „rechtshändigen“ Teilchen umgekehrt ist. Wird also C auf das Neutrino angewandt, so ergibt das zwar, wie erwartet, ein Antineutrino, allerdings ein linkshändiges, ein Teilchen, das es so nicht gibt (Abb. 1)
Abb. 1
Abb. 2
Desgleichen ergibt P, angewandt auf das Neutrino, ein ebenfalls physikalisch unsinniges rechtshändiges Teilchen (Abb. 2). Unterwirft man jedoch das Neutrino C und P gleichzeitig, so erhält man ein rechtshändiges, in der Natur vorkommendes Antineutrino (Abb. 3).
Abb. 3
Damit bilden C und P gemeinsam angewandt die Welt der Teilchen auf die der Antiteilchen ab. Es herrscht CP-Symmetrie bezüglich der schwachen Wechselwirkung.
1964 beobachteten jedoch Christenson, Cronin, Fitch und Turlay bei der Untersuchung des Zerfalls neutraler Kaonen K0, eine Verletzung der CP-Symmetrie. Kaonen gehören zur Gruppe der Mesonen, die aus je einem Quark und einem Antiquark bestehen: das „normale“ Kaon aus einem down- und einem Anti-strange-Quark, das Anti-Kaon aus einem Anti-down und einem strange-Quark. Da sich das Kaon in das Anti-Kaon umwandeln kann und umgekehrt das Anti-Kaon in das Kaon,
Kaonenoszillation (Credit: Jan Fiete Große-Oetringhaus)
„sieht“ die schwache Wechselwirkung die Kaonen nicht als einzelne Teilchen, sondern als eine lineare Überlagerung der beiden, die man mit K01 und K02 bezeichnet (Abb. 4). K01 und K02 stellen also eine Mischung aus Materie und Antimaterie dar.
Abb. 4 (Credit: R. Burgess und R. Frazier)
K01 und K02 zerfallen in Pionen, auch p-Meson genannt. p-Meson bestehen aus einem up- und einem Anti-down-Quark, die Anti-Teilchen aus einem down- und einem Anti-up-Quark. Da das K01 deutlich schneller zerfällt als das K02, hat man ersteres auch mit dem Index S für „Schnell“ versehen, also K0S, und letzteres mit dem Index L für „Langsam“, also K0L.
Wenn nun in diesem Kaonensystem die CP-Erhaltung Gültigkeit hätte, sollte das K0S immer in zwei p-Meson zerfallen, das K0L immer in drei p-Meson (Abb. 5).
Abb. 5 (Credit: R. Burgess und R. Frazier)
Beobachtet hat man jedoch etwas anderes: Bei rund 500 beobachteten Zerfällen zerfiel das K0L nicht in drei, sondern nur in zwei p-Meson. Mit anderen Worten: Die CP-Symmetrie ist nicht erhalten, sondern verletzt, und Materie und Antimaterie werden – zumindest in diesem Fall – von der schwachen Wechselwirkung unterschiedlich behandelt. Ein erster Hinweis auf einen Mechanismus, der in der Frühzeit des Universums zu dem asymmetrischen Zerfall der X- und Y-Bosonen geführt haben könnte.
Neben dem Zerfall des langlebigen K0L–Kaons in drei p-Meson kommt auch ein Zerfall in drei andere Teilchen vor: in ein negatives p-Meson, ein Positron, das Anti-Teilchen des Elektrons, und in ein Elektron-Neutrino (Kanal 1). Das CP-symmetrische K0L zerfällt dagegen in ein positiv geladenes p-Meson, ein Elektron und ein Anti-Elektron-Neutrino (Kanal 2). Herrscht perfekte CP-Symmetrie, so sollten beide Zerfälle gleich wahrscheinlich sein. Doch die Experimente lieferten auf 1003 Kanal 1-Zerfälle, nur 1000 Zerfälle entsprechend dem Kanal 2. Damit ist auch hier die CP-Symmetrie leicht verletzt (Abb. 6)
Abb. 6 (Credit: L. Feld, Uni Freiburg)
Auch beim Zerfall von B-Mesonen und deren Antiteilchen kommt es zu einer Verletzung der CP-Symmetrie. Wie die Tabelle zeigt, sind diese Teilchen aus je einem Quark und einem Antiquark zusammengesetzt.
Aufbau von B-Mesonen und Anti-B-Mesonen
Im Rahmen des „Babar“-Experiments am Stanford Linear Beschleuniger Center SLAC an der Stanford-University in Kalifornien und des Belle-Experiments am japanischen Beschleuniger KEK wird der Zerfall dieser Teilchen untersucht. In regelrechten Mesonen-Fabriken werden dort zunächst große Mengen an B- und Anti-B-Mesonen erzeugt und anschließend die beim Zerfall entstehenden Teilchen registriert und mit den Vorhersagen der Standardtheorie der Elemetarteilchenphysik verglichen.
Blick in den Babar-Detektor am SLAC
(Credit: SLAC National Accelerator Laboratory)
Auch hier zeigt sich eine ungleiche Behandlung der B- und Anti-B-Mesonen durch die schwache Wechselwirkung, also eine Verletzung der CP-Symmetrie. Bei den CP verletzenden Zerfällen neutraler B-Mesonen registrierte man 2241±57 Zerfälle des B-Mesons in ein K+ (Kaon) und ein negatv geladenes p-Meson), jedoch nur 1856±52 Zerfälle des Anti-B-Mesons in ein K– und ein positiv geladenes p-Meson. Ein entgegengesetztes Bild lieferten die Zerfallsreaktionen an geladenen B-Mesonen. Hier war das Verhältnis umgekehrt, sodass ein Anti-B-Meson häufiger in ein K– zerfiel als ein B-Meson in ein K+. Abgesehen von der Verletzung der CP-Symmetrie lässt sich insbesondere diese Asymmetrie in der CP-Verletzung mit dem Standard-Modell der Elementarteilchen nicht in Einklang bringen.
B-Mesonen entstehen auch bei den Kollisionen von Protonen und Antiprotonen am LHC (Large Hadron Collider) in Genf. Neben dem bereits besprochen Zerfall der B-Mesonen in Kaonen und p-Meson entstehen auch massereiche Leptonen, das Tau und das Myon. Diese Leptonen sind sehr kurzlebig und zerfallen rasch in masseärmere Leptonen. So kann ein Tau-Lepton in ein Quark, ein Antiquark und in ein Tau-Neutrino zerfallen. Normalerweise sollte die Zerfallsrate der Leptonen Tau und Myon identisch sein. Mit dem LHCb-Detektor am LHC hat man jedoch einen auffallenden Unterschied in der Zerfallsrate gemessen. Da dieser Effekt
Leptonenspuren im LHCb-Detektor (Credit: CERN LHCb Collaboration)
auch schon am Stanford Linear Beschleuniger SLAC im Rahmen des Babar-Experiments beobachtet wurde, darf man wohl einen zufälligen Messfehler ausschließen. Brian Hamilton von der University of Maryland spekuliert denn auch, ob nicht bislang unbekannte Teilchen oder Kräfte für den asymmetrischen Zerfall der Leptonen verantwortlich, beziehungsweise für die CP-Verletzung ursächlich sind. Die Forscher hoffen nun, dass der mittlerweile mit höherer Kollisionsenergie laufende LHC aufschlussreichere Daten liefert.
Erwähnen wir noch die Experimente am Teilchenbeschleuniger Tevatron in Batavia bei Chicago. Auch dort entstanden bei der Kollision von Protonen und Antiprotonen mit einer Energie von 1,96 TeV (Teraelektronenvolt) kurzlebige neutrale B-Mesonen, bei deren Zerfall deutlich mehr Myonen als Antimyonen registriert wurden. Gemäß der Standardtheorie sollten aber gleich viele Teilchen wie Anti-Teilchen entstehen. Denn nach dem Standardmodell der Teilchenphysik müssten alle Leptonen auf gleiche Weise mit den vier Grundkräften (Gravitation, starke und schwache Wechselwirkung und elektromagnetische Kraft) interagieren. Ulrich Nierste vom Karlsruher Institut für Technologie kommentierte dieses Ergebnis mit den Worten: „Sollte die vorliegende Abweichung unabhängig bestätigt werden, wäre die Tür zu neuen Naturgesetzen aufgestoßen.“
Bislang scheint der „Schwarze Peter“ für die Zerfallsasymmetrie bei der schwachen Kernkraft zu liegen, die, so scheint es, Materie und Antimaterie unterschiedlich behandelt. Doch die Forscher denken weiter. Vielleicht ist nicht die schwache Kraft die Schuldige, sondern Materie und Antimaterie sind – abgesehen von Ladung und Spin – gar nicht identisch. Es könnte doch sein, dass ein Teilchen und dessen Antiteilchen unterschiedliche Massen haben, was zu den beobachteten Asymmetrien führen könnte. Im BASE-Experiment (Baryon Antibaryon Symmetry Experiment) am CERN haben Forscher das Verhältnis von Masse zu Ladung für Protonen und Antiprotonen überprüft. Die für diesen Test benötigten Teilchen wurden in einer sogenannten Penningfalle geparkt, wo ein starkes Magnetfeld die Teilchen auf eine kreisförmige Bahn zwingt. Wie viele Runden die Teilchen pro Zeiteinheit drehen, wird bestimmt vom Verhältnis Masse der Teilchen zu ihrer Ladung. Da es an der Ladung der Teilchen nichts zu rütteln gibt – sie ist bis auf das Vorzeichen immer gleich der Elementarladung –, sind Unterschiede in der Anzahl der Umläufe auf eine Massendifferenz von Proton und Antiproton zurückzuführen.
Antiproton in einer Penningfalle
Credit: Fabienne Marcastel, Georg Schneider BASE-Kollaboration
Wie die Forscher berichten, war das Masse-Ladungsverhältnis von Proton und Antiproton bis auf einen Bruchteil von 69 Billionstel gleich, sodass die Masse der beiden Teilchen bis auf neun Stellen hinter dem Komma identisch ist. Massenunterschiede der Teilchen dürften demnach nicht für die beobachten Symmetriebrüche in Frage kommen.
Gleichzeitig läuft am ALICE-Detektor (A Large Ion Collider Experiment) des LHC eine Untersuchung der Massen von Deuterium- und Antideuteriumkernen sowie von Helium3- und Anti-Helium3-Kernen. Die bei der Kollision von Bleikernen entstehenden Teilchen werden durch das Magnetfeld des Detektors abgelenkt und ihre Spuren vermessen. Aus der Flugbahn und der Flugzeit können die Forscher wieder das Masse-Ladungsverhältnis von Teilchen und Antiteilchen bestimmen. Auch bei diesem Experiment haben sich im Rahmen der Messunsicherheit keine Massenunterschiede erkennen lassen.
Teilchenspuren einer Bleikern-Kollision am Detektor ALICE am LHC
(Credit: CERN)
Fasst man die Ergebnisse aller Untersuchungen zusammen, so bleibt als Fazit: Genaues weiß man nicht. Zwar erhärtet sich der Verdacht, dass eine Verletzung der CP-Symmetrie bei der schwachen Kernkraft für die unterschiedliche Behandlung beim Zerfall von Materie und Antimaterie verantwortlich zeichnet, doch was die Ungleichheit auslöst, ist nach wie vor rätselhaft. Dass zum Energiehaushalt des Universums Materie mit rund 30 Prozent beiträgt, wird von einem ganzen Katalog an gesammelten Daten und umfangreichen Messungen untermauert. Doch die „Wurzeln“ dieses Beitrags reichen zurück auf eine noch immer unerklärliche Asymmetrie in der Frühphase des Kosmos.
Jörn Müller (16. September 2015)
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