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Tschernobyl – als die Wissenschaft aus einem Traum erwachte und wahre Helden geboren wurden

Tschernobyl – als die Wissenschaft aus einem Traum erwachte und wahre Helden geboren wurden

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Morgen jährt sich ein schreckliches und dunkles Kapitel der Wissenschaft zum 30. Mal. Weil wir an dieser Stelle oft und gerne stolz die großen Errungenschaften der Forschung präsentieren, fühle ich mich verpflichtet, auch fatale Fehler der Wissenschaft einzuräumen. Das Reaktorunglück von Tschernobyl ist ein trauriges Beispiel für den fehlenden Respekt vor der Natur und die maßlose Selbstüberschätzung, die uns Menschen wie im Rausch überfallen kann, wenn wir denken die fundamentalen Naturgesetze beherrschen und für unsere Zwecke nutzen zu können. Die Freisetzung der atomaren Bindungsenergie, die in Waffenform den Zweiten Weltkrieg beendet hatte, sollte durch kontrollierte Kettenreaktion zum Füllhorn sicherer Energiegewinnung werden. Die Menschen wurden in Tschernobyl brutal aus diesem Traum gerissen - oder mit den Worten von Albert Schweitzer: „Wir leben in gefährlichen Zeiten, weil der Mensch gelernt hat die Natur zu beherrschen, bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen.“

Jeden Tag fällt mein Blick auf den dampfenden Kühlturm des Atomkraftwerkes Isar-2, weil ich nur wenige Kilometer davon entfernt lebe. Er ist für mich zur ständigen Mahnung geworden, dass Grundlagenforschung mit großer Verantwortung verbunden ist. Wie konnten wir zulassen, dass eine unausgereifte Technologie mit Steuergeldern in Rekordzeit zur Marktreife geprügelt wurde? Noch heute produzieren unsere Reaktoren radioaktiven Müll ohne dass es dafür ein Lösungskonzept gäbe.

Aber zurück zu Tschernobyl - was ist konkret vor 30 Jahren und seither dort passiert?

In der Nacht auf den 26. April 1986 ereignete sich die bislang größte Katastrophe der zivilen Nutzung der Kernenergie. In Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl vollzog sich eine Kernschmelze. Explosionen und tagelange Brände schleuderten radioaktiven Staub in die Atmosphäre. Viele Menschen kamen unmittelbar und durch Spätfolgen ums Leben. Ein radioaktiver Fallout überzog halb Europa.

 

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Funktionsprinzip des graphitmoderierten Siedewasser-Druckröhren-Reaktors. (Bildcredit: Fireice/CC-by-sa 3.0)

In Tschernobyl wurden sogenannte graphitmoderierte Siedewasser-Druckröhren-Reaktoren betrieben. Dabei wurden röhrenförmige Brennelemente aus Uran von einem Graphitblock umschlossen, der freie Neutronen ausreichend abgebremst hat um eine Kettenreaktion in Gang zu halten. Die Neutronen, die bei Kernspaltung freigesetzt werden, besitzen nämlich eine zu hohe Geschwindigkeit um weitere Spaltungen auslösen zu können. Zusätzlich wurde die Kettenreaktion durch Stäbe aus Borkarbid gesteuert, die mehr oder weniger tief in den Reaktor eingeführt werden konnten und somit mehr oder weniger der freien Neutronen absorbierten. Das war gewissermaßen gleichzeitig Gaspedal und Bremse des Reaktors. Zur Kühlung des Reaktors diente Wasser, mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass dessen Dampf zur Stromerzeugung genutzt wurde.

Wie kam es zum Unfall? Ironischerweise steht am Anfang der Fehlerkette ein präzise ausgefeilter Test, der zur Erhöhung der Sicherheit durchgeführt wurde. Er sollte prüfen, ob bei einem Stromausfall das Nachlaufen der Turbinen den Kühlwasserkreislauf lange genug in Gang hält, bis die Notstromaggregate starten. Für den Test fuhren die Techniker die Nennleistung des Kernreaktors mittels besagtem Bremspedal herunter, schalteten eine der beiden Turbinen aus und „gaben anschließend wieder etwas Gas“, d.h. sie fuhren 22 der insgesamt 30 Borkarbid-Stäbe aus dem Reaktorkern. Die abgeschaltete Turbine lief mittlerweile – ohne neue Dampfzufuhr – planmäßig aus und verringerte erwartungsgemäß die Kühlleistung. Die Temperatur im Reaktor stieg jedoch stärker als geplant an, wodurch der Computer eine automatische Notabschaltung ausgelöst hätte. Die Ingenieure hatten jedoch die Sicherheitssysteme manuell überbrückt. Als der Schichtleiter die Konsequenzen erkannte und eine (erneute) Notabschaltung einleitete, die bauartbedingt weitere 18 Sekunden benötigte und durch Graphitkappen an den Steuerstäben kurzzeitig die Reaktiionsrate sogar weiter ansteigen liess, hatten bereits zwei Explosionen die 3.000 Tonnen schwere Abdeckplatte davon gerissen und das Gebäudedach durchschlagen. Das Graphit und mit ihm der gesamte Reaktorblock 4 gerieten in Brand. Die Thermik des Feuers schleuderte tonnenweise radioaktives Material kilometerhoch in die Atmosphäre. Bezogen auf Cäsium-137 und Iod-131 wurde durch diese fatale Konstellation mehr als die zehnfache Menge der Fukushima-Katastrophe freigesetzt.

In den folgenden 10 Tagen wurden mit Hubschraubern über 5.000 Tonnen Blei, Borkarbid, Sand und Gestein abgeworfen – der Kampf gegen die entfesselte Naturgewalt war jedoch bereits verloren, bevor er begonnen hatte. Ein Augenzeuge wird später berichten, er hätte es nicht für möglich gehalten, dass abgeworfenes Blei „einfach verdampft“. Tatsächlich war im Reaktor die Siedetemperatur von Blei bereits um 300 °C überschritten.

Tausende von Arbeitern erleiden beim verzweifelten Kampf gegen das Unheil schwere Strahlenschäden. Mit ihrem Todesmut dämmten sie die fatalen Folgen ein und errichteten über der Unglücksstelle ein Schutzgebäude aus Stahl und Beton, den sogenannten „Sarkophag“, der Europa vor weiteren fatalen Folgen schützt. Anschließend versanken sie mit ihren Strahlenkrankheiten, Depressionen, Alkoholismus und sozialem Abstieg in der Vergessenheit. Jeder von uns kennt auf Anhieb dutzende Namen populärer Sportler, Politiker, Wissenschaftler, Astronauten usw. – niemand kennt auch nur einen Namen der Menschen, die Europa vor fatalen Folgen bewahrten. Für mich begehen wir morgen den 30. Jahrestag dieser Menschen - der wahren Helden von Tschernobyl!

Und wie sieht es heute im Reaktorgebäude aus – 30 Jahre danach? Man möchte meinen nach „so langer“ Zeit wären die Probleme im Griff - die Zeit heilt doch bekanntlich alle Wunden. Ja, das wird sie auch in Tschernobyl, allerdings erst auf anderen Zeitskalen als wir Menschen uns vorstellen können. Die Kernreaktionen der verbliebenen 150 Tonnen radioaktiven Materials werden noch viele Jahrmillionen andauern. Zumindest für 100 Jahre soll nun ein neuer Sarkophag, der sogenannte New Save Containment, die Folgen des Unfalls unter Verschluss halten. Wegen der hohen Strahlenbelastung wird der 217 m x 169 m x 109 m große, 35.000 Tonnen schwere, etwa eine Mrd. Euro teure Deckel neben dem Reaktor erstellt und nach Fertigstellung „darüber geschoben“.

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New Safe Containment (April 2015) (Bildcredit: Tim Porter/CC-by-sa 4.0)

Eigentlich bräuchten wir einen Sarkophag über der gesamten Region, weil radioaktiver Staub fortwährend durch Waldbrände in die Atmosphäre gelangt. Verglichen mit der ursprünglichen Katastrophe wurde auf diese Weise mittlerweile ein weiteres Zehntel der Cäsium-137-Menge zusätzlich freigesetzt.

Eigentlich wollte ich diesen Newsbeitrag mit etwas Positivem abschließen, beispielsweise mit dem speziellen Pilz, der sich auf dem havarierten Reaktor gebildet hat (Details ab Seite 270 im Buch) und dokumentiert, dass das Leben immer einen Weg finden wird, egal welche Verfehlungen wir noch auf uns laden werden. Auch eine Reihe weiterer Lebensformen sind mittlerweile in die 30-km-Todeszone zurückgekehrt, sogar bedrohte Arten. Trotzdem fällt es mir schwer, angesichts des traurigen Jahrestags einen freudigen Schlußgedanken zu formulieren. Dass Lebensformen in der Todeszone besser gedeihen als außerhalb, zeigt eigentlich nur, dass selbst radioaktive Strahlung das geringere Übel darstellt im Vergleich zu menschlichen Einflüssen anderswo. Das sollte uns zu denken geben.

Noch ist das Kapitel Atomkraftwerke auch in Deutschland nicht beendet und der Kühlturm des AKWs Isar-2 lässt mich auch zukünftig bei jedem Vorbeifahren hoffen, dass niemals jemand auf "Helden von Isar-2" zurückblicken muss.


Josef M. Gaßner (25. April 2016)

 


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